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Man sagt, Kinder bräuchten Grenzen - und was ist mit den Erwachsenen?

 

"Kinder brauchen eine gesunde Portion Nein, um Grenzen auszutesten", sagt Moritz Daum, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich. Oder, wie ein weit verbreiteter traditioneller Erziehungsleitsatz lautet: Kinder brauchen Grenzen. Sei es, dass sie, wenn es Zeit fürs Schlafengehen ist, nicht mehr länger draussen spielen dürfen. Sei es, dass sie keinen Nachtisch bekommen, wenn sie das Gemüse nicht aufgegessen haben. Sei es, dass sie, so lange sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt haben, keine Gutenachtgeschichte bekommen. Sinn und Nutzen solcher "Grenzen" werden häufig kaum hinterfragt, doch die meisten Eltern sind davon überzeugt, damit nur das Beste für ihre Kinder zu wollen, um auf diese Weise zu verhindern, dass aus ihnen dereinst rücksichtslose, unanständige und übertrieben egoistische Erwachsene werden. Doch drehen wir den Spiess einmal um: Wie sieht es denn aus, wenn es um die Bedürfnisse der Erwachsenen geht? Seltsamerweise gelten da auf einmal ganz andere, total gegensätzliche Regeln. Die gleichen Erwachsenen, die ihren Kindern bei jeder Gelegenheit Grenzen setzen, wehren sich mit Händen und Füssen, wenn es um ihre Privilegien geht. Niemand möchte sich von irgendwem verbieten lassen, sich den neuesten SUV anzuschaffen. Oder nächsten Sommer auf die Malediven zu fliegen. Oder sich alle zwei Jahre ein neues Smartphone oder einen neuen Laptop zu kaufen. Oder täglich ein Stück Fleisch auf dem Teller zu haben. Alle diese "Freiheiten" werden als "grenzenlos" selbstverständlich angesehen, und dies, obwohl mit alledem ein unvergleichlich höherer Schaden angerichtet wird als durch ein nicht fertig gegessenes Gemüse oder ein unaufgeräumtes Kinderzimmer, ein Schaden nämlich, der in letzter Konsequenz in der Summe aller seiner Einzelteile dazu führen kann, dass die Erde für uns Menschen eines Tages unbewohnbar sein wird. Höchste Zeit, dass die Erwachsenen das Grenzensetzen, das sie gegenüber ihren Kindern so gerne und oft wohl auch allzu eifrig oder geradezu übertrieben praktizieren, nun endlich auch bei sich selber anzuwenden beginnen. Denn die wirkliche Grenze, auf die es ankommt, ist weder der Gemüseteller des Kindes, noch seine Gutenachtgeschichte. Die wirkliche Grenze ist die Erde, auf der wir entweder alle miteinander überleben oder alle miteinander untergehen.

 

 

 

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