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Lernzentren statt Schulen: ein pädagogisches Modell für die Zukunft

 

Als Alternative zur konventionellen Lehrplan-, Selektions- und Jahrgangsklassenschule schlage ich ein offenes Lernsystem vor, das Lernzentrum. Dieses kann man sich am besten als einen Marktplatz gegenseitigen, altersunabhängigen Lernens vorstellen.

Doch schön der Reihe nach. Bevor die Kinder ins Lernzentrum eintreten, besuchen sie das Kinderhaus. Dieses ist vergleichbar mit heutigen Kindergärten, aber mit dem Unterschied, dass die Kinder bis zum achten, ev. neunten Lebensjahr dort verweilen. Im Kinderhaus wird frei und spielerisch gelernt, so wie in den ersten Lebensjahren, selbstbestimmt, selbsttätig, im eigenen Tempo, in der eigenen Reihenfolge, gemäss dem jedem Kind eingeschriebenen inneren Lernplan. Nebst vielem anderem erlernen die Kinder im Kinderhaus mathematische Grundkenntnisse und das Lesen und Schreiben.

Mit acht oder neun Jahren wechseln die Kinder ins Lernzentrum. Dieses bietet eine Vielzahl an Kursen, Projekten und Aktivitäten an, aus denen die Kinder frei auswählen können. Die Kurse beinhalten berufsrelevante Wissensgebiete und Fertigkeiten wie Hauswirtschaft, Mechanik, Englisch, Körperpflege, Künstlerisches Gestalten, Schriftliches Gestalten, Informatik, Kochen, Physik und Chemie, Metallbearbeitung, Elektronik, usw. Projekte sind zum Beispiel die Erarbeitung einer Theateraufführung, der Bau eines Geräteschuppens, Fremdsprachenaufenthalte und vieles mehr. Aktivitäten sind u.a. Spiel und Sport, gemeinsames Musizieren, Tanzen und Singen, usw. Die in den Kursen behandelten Lernfelder sind alle gleichwertig, es gibt nicht so etwas wie «Hauptfächer» und «Nebenfächer». 

Die Kurse werden semesterweise je mit einem Diplom abgeschlossen. Dabei sind die Anforderungen so definiert, dass grundsätzlich alle Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer das Diplom auch tatsächlich erwerben können. Der Weg durch das Lernzentrum ist somit ein Weg von Erfolg zu Erfolg, nicht von Misserfolg zu Misserfolg - und zwar für jedes Kind und jeden Jugendlichen, so verschlungen seine Lernwege auch sein mögen. Sie alle bilden sich weiter aufgrund ihrer Stärken, nicht ihrer Schwächen. Das Lernzentrum ist somit eine Stätte grösstmöglicher Entdeckung und Förderung individueller Talente und Begabungen.

Mit zwölf Jahren wird Bilanz gezogen. Welche Kurse habe ich mit welchen Levels bereits abgeschlossen? Ein Kursprofil könnte dann z.B. so aussehen: Englisch Level 6, Metallbearbeitung 4, Physik und Chemie 3, Mathematik 5. Die nächste Frage lautet: Was ist mein derzeitiges Berufsziel? Jede Berufslehre setzt ein bestimmtes Kursprofil voraus, z.B. eine kaufmännische Lehre erfordert folgendes Kursprofil: Englisch Level 10, Schriftliches Gestalten 8, Mathematik 4, usw. Der Jugendliche hat nun weitere vier Jahre Zeit, bis zu seinem 16. Lebensjahr, sich die für seine Berufslehre erforderlichen, noch fehlenden Abschlüsse zu erarbeiten. Hat er auf einem bestimmten Gebiet das Soll erfüllt, hält ihn nichts davon ab, sich weitere Levels zu erarbeiten, je nach persönlichem Interesse.

Logische Folge des auf die praktische Berufsausübung ausgerichteten Lernzentrums ist, dass es keinen rein akademischen Weg mehr gibt, wie er heute in der Form des Gymnasiums besteht. Alle Jugendlichen treten mit 16 oder 17 Jahren eine praktische Berufslehre an, alle weiterführenden Ausbildungswege bis hin zur Universität bauen auf dieser Grundausbildung auf. Das duale Bildungssystem, ein auch international beachtetes Schweizer Erfolgsmodell, wäre dann die Regel für alle, was auch die unselige gegenseitige Konkurrenzierung zwischen Gymnasien und Lehrbetrieben beenden würde.

Kinderhaus und Lernzentrum bauen darauf auf, dass Kinder und Jugendliche lernen wollen. Jedes Kind zeigt in seinen ersten Lebensjahren einen unersättlichen Lernwillen, und es lernt äusserst viel und äusserst effizient. Man kann darauf bauen, dass Kinder und Jugendliche auch mit acht oder fünfzehn Jahren ebenso eifrig lernen, wie sie das in ihren ersten Lebensjahren getan haben - vorausgesetzt, es steht ein hierfür geeignetes Lernumfeld bereit.

Im Gegensatz zur heutigen Selektionsschule, die einer Treppe gleicht, deren Stufen gegen oben immer schmaler werden und über deren Ränder immer mehr Kinder hinunterpurzeln, wären Kinderhaus und Lernzentrum ein Garten, in dem Platz ist für sämtliche Lernwege der Kinder und der Jugendlichen, so unterschiedlich, verschlungen und geheimnisvoll diese Lernwege auch sein mögen.

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