"In der Schweiz wird suggeriert", so der Bildungssoziologe Rolf Becker in der "NZZ am Sonntag" vom 10. April 2022, "alle könnten im Bildungssystem aufsteigen, wenn sie nur wollten. Aber das stimmt nur bedingt. Denn bei gleichen Leistungen haben Akademikerkinder bis zu viermal bessere Chancen, das Gymnasium zu besuchen, eine gymnasiale Maturität und einen Hochschulabschluss zu erwerben als Kinder mit tiefem Bildungsniveau." Und für Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, entscheidet sich die Frage, ob ein Kind später einmal zum "Bildungsaufsteiger" oder zum "Bildungsabsteiger" wird, bereits "vor der Geburt." Seit Jahren zerbrechen sich Bildungsfachleute den Kopf, wie man diesen Missstand beheben und mehr Chancengerechtigkeit auch für sogenannte "bildungsferne" Schichten erreichen könnte. Doch das Problem liegt nicht so sehr bei den vermeintlich "bildungsfernen" Bevölkerungsschichten. Es liegt vielmehr bei einem Bildungssystem, das von "oben" und "unten", "Aufstieg" und "Abstieg", "Erfolg" und "Misserfolg" geprägt ist. Würde man, theoretisch, jegliche Benachteiligung von "bildungsfernen" Bevölkerungsschichten aus der Welt schaffen, so wären es dann halt eben andere Kinder und Jugendliche, welche durch die Maschen fallen würden, denn ein vertikales, gleich einer Pyramide von einer breiten Basis auf eine schmale Spitze ausgerichtetes, vertikales Bildungssystem führt zwangsläufig dazu, dass die einen diese Spitze erreichen, die anderen aber nicht. Das herrschende Notensystem ist das unverwechselbare Merkmal dieses Bildungssystems: Egal, wie sehr sich die Schülerinnen und Schüler auch anstrengen - am Ende kassieren stets einige wenige die guten Noten, etliche finden sich im Mittelfeld und eine mehr oder weniger kleine Minderheit muss sich mit einer "ungenügenden" Note abfinden. Dieses vertikale, selektive Bildungssystem könnte man mit einer Treppe vergleichen, deren Stufen nach oben immer schmaler werden und über deren Rand immer mehr Kinder und Jugendliche hinunterpurzeln, um denen, die am erfolgreichsten nach oben drängen, Platz zu machen. "Chancengerechtigkeit" können wir nur erreichen, wenn die Treppe in einen Garten umgewandelt wird. In einen Garten, in dem es nicht mehr "oben" und "unten", "Aufstieg" und "Abstieg" gibt, sondern für jedes Kind und jeden Jugendlichen einen ihm passenden, gleichwertigen Weg erfolgreichen Lernens. In der "Treppenschule" entscheiden ein paar wenige Schlüsselfächer wie Deutsch, Französisch und Mathematik über Erfolg oder Misserfolg. In der "Gartenschule" ist jede Begabung und jede Fähigkeit genau gleich wichtig und wertvoll: Körperliche Kraft, eine schöne Stimme, manuelles Geschick, die Fähigkeit ein wunderbares Gericht auf den Tisch zu zaubern, Gespür für Ordnung, Mitgefühl und Empathie, Sorgfalt im Umgang mit einem kranken oder pflegebedürftigen Menschen, die Gabe aufmerksam zuzuhören, Tierliebe, Humor, ein gutes Gedächtnis, Interesse an anderen Menschen, künstlerisches Geschick, ein feiner Sinn für Farben - diese und beliebig viele weitere Begabungen sind, damit Gesellschaft und Wirtschaft erfolgreich funktionieren können, genau so wichtig wie die Fähigkeit, einen Text fehlerfrei zu schreiben oder viele verschiedene Rechenoperationen perfekt zu beherrschen. Und so gibt es in der "Gartenschule" keine "schlechten" und auch keine "guten" Schülerinnen und Schüler, sondern alle sind nur in dem Masse gut, wie es ihnen möglich ist, ihre eigenen, individuellen, unverwechselbaren und einzigartigen Begabungen zu verwirklichen. "Selektion" erfolgt auch in der "Gartenschule", aber nicht aufgrund von Erfolg oder Misserfolg in einzelnen wenigen "Hauptfächern", sondern dadurch, dass die entwickelten Begabungen und Fertigkeiten in einen möglichst optimalen Einklang gebracht werden mit dem Anforderungsprofil dieses oder jenes zukünftigen Berufs. Während Monika nach Abschluss der "Treppenschule" vor allem deshalb als Kellnerin arbeiten wird, weil sie - negative Selektion - in den "wichtigen" Schulfächern versagte und neun Jahre lang mit schmerzlichen Misserfolgen leben musste, wird sie nach Abschluss der "Gartenschule" vor allem deshalb als Kellnerin arbeiten, weil sie - positive Selektion - neun Jahre lang erleben durfte, als wie wichtig und wertvoll ihr Humor und ihre Fröhlichkeit wahrgenommen wurden, ihr kommunikatives Talent, ihre körperliche Belastbarkeit, ihre Gabe, Menschen willkommen zu heissen und eine freundliche Atmosphäre zu schaffen. Die Abkehr von der "Treppenschule" hin zu einer "Gartenschule" bedeutet zugleich auch eine Abkehr von der Illusion, man könne Bildung und Lernen dadurch fördern, dass man die Kinder bei ihrem Lernen beständig miteinander vergleicht, sie bewertet, ihre Leistungen misst und sie in einen gegenseitigen Wettstreit zwingt, bei dem es für jeden "Gewinner" stets auch wieder einen "Verlierer" gibt. Im Gegensatz zur "Treppenschule" wird in der "Gartenschule" kein Kind mit dem anderen verglichen und so könnte endlich, nach 250 Jahren, die Forderung Johann Heinrich Pestalozzis doch noch Wirklichkeit werden: "Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern jedes nur mit sich selber."
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